Salinger unsterblich

Ein Holden Caulfield Experiment /An der Grenze des Wahnsinns

von Pauline Beaulieu

Alte Kantine Wedding - 2013

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Fotos © Anna Bergemann

Ein Holden Caulfield Experiment / An der Grenze des Wahnsinns ist das irrsinnige, performative Wagnis, in dem 5 Künstler eine gemeinsame - und doch von der persönlichen Lektüre imprägnierte Stimme erfinden werden, die die Essenz des Fängers im Roggen von J.D. Salinger in einer theatralischen, musikalischen und filmischen Form treffend und außergewöhnlich ausdrückt, ohne den (verbotenen) Originaltext zu verwenden.

 

Die fiktiven Kinder von J.D. Salinger haben für mich die Vertrautheit von imaginären Geschwistern, die wir so gerne anrufen würden, um den eigenen Verlust von Halt, den verschämten, aber sichtbar kommenden Nervenzusammenbruch, die Ratlosigkeit vor einer Gesellschaft in der das Wort « Kunst » von Künstlern selbst spöttisch ausgesprochen wird, zu besprechen. Nicht unbedingt um eine Lösung zu finden. Und mit einer Vorliebe für Abschweifungen.

Wahnsinn, Kunst und Illumination stricken unsere Leben, sei es im hellen Licht oder im Verborgenen. Ob wir Künstler sind oder nicht. Ob wir eine Erfahrung an der Grenze des Wahnsinns tief in uns versteckt haben. Ob der Glaube eines Tages wichtiger als alles andere geworden ist oder ob dieser Gedanke uns erschreckt und abschreckt.

 

Die erstickende Einsamkeit, die versteckte Fragilität und offene Marginalität von Holden Caulfield sind Eigenschaften, die bei Teenagern, Künstlern und Lustmördern vielleicht besonders ausgeprägt sind. Salinger hat sich sein Leben lang in einem frommen Weg absolut und kompromisslos seinem Schreiben gewidmet. Kunst über alles, gegen alles. Bis sie nicht mehr reichte. Bis die Illumination der Kunst einen größeren Sinn gab. Bis die fiktiven Figuren realer als die Welt wurden und vor der Welt geschützt werden mussten.

 

In einer Gesellschaft, die das Individuum und seine eigenen tiefen Träume verschluckt und erstickt, steht Holden Caulfield genauso wie Salinger mit seinem zynischen, erbarmungslosen Blick über einer Gesellschaft der Verlogenheit wie ein tragischer Held.

Ist der gefährliche Abgrund, an dessen Rand Holden zwischen Freiheit und Wahnsinn balanciert und der ihn zu einem unwiderstehlichen Sturz in das Unbekannte verleitet, für Salinger und für uns die unausweichliche Voraussetzung zum Künstlerwerden?

 

Ein Holden Caulfield Experiment/ An der Grenze des Wahnsinns ist der erste Teil einer Quadrologie, die sich zum ersten Mal seit dem Experiment von Bernard-Marie Koltès mit seinem Sallinger, allen 4 veröffentlichten Werken von J.D. Salinger widmet.

Teil 1 : Ein Holden Caulfield Experiment / An der Grenze des Wahnsinns (nach dem  Fänger im Roggen)

Teil 2 : Von Seymour bis Teddy, 9 Leben / Wahnsinn und Kunst (nach den Neun Erzählungen)

Teil 3 : Franny versus Zooey / Kunst und Illumination (nach Franny und Zooey)

Teil 4 : Buddy ohne Seymour / die Kunst der Unsterblichkeit (nach Hebt den Dachbalken hoch, Zimmerleute und Seymour wird vorgestellt)

 

Weil ich nicht mehr die Möglichkeit habe, wie Frédéric Beigbeder, mit dem Gedanken zu spielen, J.D. Salinger in seinem Haus im Wald zu besuchen und dass ich höchstwahrscheinlich nie in diesem Leben mit Holden Caulfield einen Drink nehmen werde, habe ich ein paar Künstler, die ich besonders schätze, gefragt, sich mit mir und der „Familie Caulfield“ in Berlin zu treffen.

 

Drei Wochen lang werden wir eine Vorarbeit für den ersten Teil der Quadrologie unternehmen und untersuchen, was die Essenz von dem Fänger im Roggen für uns ist, wo die Grenze des Wahnsinns liegt und was wir gerne davon weitergeben möchten.

Die gemeinsame Sprache, die wir zwischen internationalen Schauspielern, Komponist und Videokünstler für das Holden Caulfield Experiment entwickeln werden, wird sich von den anderen Teilen der Quadrologie unterscheiden. Jedes Werk von Salinger existiert für sich und in sich. Aber es gibt eine Vision die sich erbarmungslos von Werk zu Werk entwickelt, eine Brücke wie ein Spinnennetz, Verbindungen stark wie Blut, die uns Fremden langsam und stumm fangen, und das unerwartete Gefühl vermitteln, sich plötzlich im Familienkreis zu bewegen und der verzauberten Welt Salingers nicht mehr entfliehen zu können... oder zu wollen.

 

Regie & Text: Pauline Beaulieu

Mit: Suzanne Aubert, Benjamin Bieber, Charlotte Krenz 

Musik: Knut Jürgens

Video: Stefano Alaimo

Dramaturgie: Alida Breitag